Verbucht

Verbucht

Dass ich ein großer Fan von Bahnreisen bin, habe ich glaube ich schon mehrfach erwähnt. Ich kann auch dieses billige Gemeckere über die Deutsche Bahn weder nachvollziehen, noch gutheißen. Jeder, der als Kind schon einmal versucht hat, auf seiner Modelleisenbahn zwei Märklin-Züge gleichzeitig an einem Bahnhof zum Stehen zu bringen, weiß, dass das eigentlich nach menschlichem Ermessen gar nicht geht. Die Bahn schafft das jeden Tag. Zigtausende Mal. Und bitteschön: Was sind den schon zehn, vierzig oder gar sechzig Minuten Verspätung gegenüber dem menschenverachtenden Irrsinn, der sich auf unseren unreglementierten Autobahnen abspielt, wo man trotz enthemmter Raserei keine Chance hat, bei einer Strecke von mehr als 200 Kilometer Länge auch nur annähernd die von Navi schöngerechnete Ankunftszeit einzuhalten. Vom Stress mal ganz abgesehen.

Da ich hin und wieder mal in meinem Verlag, der in der Nähe von Stuttgart beheimatet ist, zu tun habe, sitze ich in schöner Regelmäßigkeit entspannt in meinem aufs ergonomischste geformten Ledersessel und lasse mit 250 km/h deutsche Mittelgebirgslandschaften an mir vorbeirasen. Ich lese dabei ein gutes Buch, schaue aber auch häufig aus dem Fenster und zähle die Störche im Kinzigtal. Das ist zwischen Fulda und Frankfurt – für die, die es nicht wissen. Seit einiger Zeit bin ich im Besitz einer Senioren-BahnCard und leiste mir den altersgerechten Luxus, in der Ersten Klasse zu reisen. Wer nun glaubt, dass das ein Garant für Langeweile sei, während in der Zweiten Klasse das pralle Leben vor sich hin tobe wie in einer Sudel-TV-Soap, der täuscht sich. Von folgender bemerkenswerten Begebenheit gilt es zu berichten:

Montagmorgen, ICE 277 Berlin – Basel, Wagen 12. Der Zug ob der Wochenendrandlage rappelvoll. In Frankfurt das übliche große Rein und Raus, im Nu waren aber alle Plätze in meinem Großraumwagen wieder besetzt. Der Zug hatte sich bereits – superpünktlich, versteht sich – wieder in Bewegung gesetzt, als an der Tür zum Nachbarwagen 14 Unruhe entstand. Eine Gruppe von sechs Personen mit großvolumigen Koffern, die auf eine recht ausgedehnte Reisedauer schließen ließen, drängte durch den Mittelgang. Muntere Mittfünfziger, laut plappernd und gackernd, eine Doppelkopfrunde vielleicht oder ein Kegelclub, der offensichtlich am Bahnsteig schon ein „Sektchen“ genossen hatte, man war bester Dinge. Der Anführer der Truppe schritt forsch voran, ein Bündel Reiseunterlagen in der Hand, und versuchte die Platznummern über den Sitzen mit denen auf seinen Papieren in Übereinstimmung zu bringen. Schließlich blieb er triumphierend an einem vollbesetzten Vierertisch stehen, wandte sich an die dort Sitzenden und sagte laut, so dass es der ganze Wagen mitbekam:

„Ich muss sie bitten, die Plätze freizumachen, wir haben sie reserviert.“

Bei den Angesprochenen handelte es sich um offensichtlich routinierte Vielreisende, Typ Laptop-Nomade, die gerade ihre Mails checkten, Excel-Tabellen mit Zahlen vollballerten oder hässliche Powerpoint-Präsentationen befüllten.

„Das mag ja sein“, erwiderte einer der Sitzenden mit bemerkenswerter Coolness, „wir aber auch.“

„Unmöglich!“ Unser Reiseleiter wurde resolut. „Sie sitzen bestimmt im falschen Wagen. Hier, schwarz auf weiß!“ Er hielt ihnen seine Reservierung unter die Nase: „ICE 277, Frankfurt Hbf bis Basel SBB, Wagen 12, Platz 61 bis 65.“

Es brauchte nur kurze Zeit, um unseren Gruppenhäuptling davon in Kenntnis zu setzen, dass alle sechs vermeintlichen Falschsitzer ebenfalls gültige Reservierungen für ihre Plätze hatten. Der fing darauf hin an, lauthals über die Bahn zu wettern: eine Unverschämtheit sei das, Doppelreservierung, so könne man natürlich auch den Kunden das Geld aus der Nase ziehen, ob sie jetzt bis Basel stehen sollten, bodenlos, Schweinerei, typisch Bahn – und so weiter.

Zum Glück erschien in diesem Moment der Zugchef im Wagen. Ein gemütlich wirkender, sicherlich kurz vor der Pensionierung stehender Kollege von etwas schwerfälligem Körperbau, bei dessen Anblick mir sofort wieder die Frage durch den Kopf schoss, warum dieses großartige Unternehmen nicht in der Lage ist, seine Mitarbeiter mit Uniformjacken auszustatten, deren Ärmel nicht zehn Zentimeter zu lang sind.

„Na, wat jibt et denn hier für ’ne Aufregung? Kann ick behilflich seien?“, fragte er mit unüberhörbar berlinerischem Akzent.

„Die Herren hier sitzen auf unseren reservierten Plätzen!“, echauffierte sich der Gruppenchef erneut. Hier: unsere Reservierung!“ Es klang ein bisschen wie: „Jetzt aber dalli-dalli, sonst lasse ich den Waggon räumen!“ Er hielt dem Schaffner seinen Zettel unter die Nase. Der würdigte das Papier jedoch zunächst keines Blickes, sondern ließ sich von den Beschuldigten die Fahrkarten zeigen und überzeugte sich von der Korrektheit ihrer Platzwahl. Dann schnappte er sich das Reisedokument der Gruppe, schob seine Brille auf die Stirn und studierte es eingehend. Dabei verzog sich sein Gesicht zu einem kleinen Schmunzeln, er wandte sich an den ungeduldig zappelnden Reiseleiter, der mittlerweile ziemlich rotköpfig neben ihm stand und sagte seelenruhig:

„Also, det is so: Sie ham schon ne jültige Reservierung für diese Plätze hier, aba det Problem is, dass ihr Zug erst morjen fährt, wa? Sie ham det Ticket für’n Dienstag jebucht, heut is aba nu mal Montag.“

Es entstand ein Moment betretenen Schweigens. Diejenigen Mitreisenden, die mit mir das Gespräch ungewollt mitgehört hatten, feixten leise vor sich hin. In der betroffenen Gruppe entstand ein vielstimmiges Gemurmel, der Gruppenchef indes sah aus, als wolle er jeden Moment platzen.

„Ja, aber, wir haben doch unser Hotel in der Schweiz ab heute gebucht …“

„Det mach ja seien, ick nehm sie och jerne mit, allerdings müssten se dann für die Jruppe nen neues Ticket buchen. Bin ick ihnen aba jerne behilflich bei. Det Alte könnse denn ja als unbenutzt zurückjeben. Wird ooch wat erstattet werden, schätz ick ma.“

„Ja, aber das war ein Super-Sparpreis-Gruppenticket!“

„Damit kann ick allerdings hier nu leida nich dienen. Hamse ne Kreditkartei dabei?“

Sich den weiteren Verlauf des Gespräches und die Reaktionen des Beteiligten auszumalen überlasse ich jetzt mal der hoffentlich hinreichend angeregten Phantasie meiner werten Leserschaft.