Mobile Mampfing
Ich weiß, ich meckere schon wieder herum, aber es muss sein.
Ich hatte mich ja schon mehrfach über die grauenhafte Unsitte geäußert, Mahlzeiten zu sich zu nehmen, während man sich im öffentlichen Raum fortbewegt, also gehend auf der Straße an Papiertüten fettigen Inhalts herumnuckelt, sich aluumwickelte Dönerbatzen reinschraubt oder den Inhalt bunter, von flinken asiatischen Fingern befüllten Pappschachteln einverleibt. Von To-Go-Bechern ganz zu schweigen. Je näher man einem deutschen Bahnhof kommt, desto schlimmer werden übrigens diese unkultivierten Auswüchse. Wen wundert’s, ist doch das Angebot an Fettfraß- und Pappgebäcksattmachern in unseren Reisestützpunkten fast schon unüberschaubar.
Neulich galt es, eine berufsbedingte Bahnfahrt von Dresden nach Hildesheim zu absolvieren. Der Zug startete um 09:10 Uhr am Dresdner Hauptbahnhof, um 13:42 Uhr wurde ich in Hildesheim erwartet. Ich hatte gegen 8:00 Uhr in meiner Unterkunft hinreichend gefrühstückt und war es gewohnt, bis zur Mittagszeit ohne weitere Nahrungsaufnahme zu überleben. Warum sollte ich also etwas essen, nur weil ich mich, in bequemen Ledersesseln dösend, mit 200 km/h durch die Landschaft schaukeln ließ? Im Laufe des Vormittags galt es jedoch die bestürzende Erfahrung zu machen, dass bei der Deutschen Bahn offenbar mittlerweile ausschließlich Speisewagen zum Einsatz kommen. Hier mein ungeschönter Erfahrungsbericht – jedes Wort, ich schwöre, ist wahr:
Dresden. Es wird die ganze Zeit gefressen. Ohne Pause. Kaum hat der Intercity die Elbbrücke passiert, beginnen alle, wirklich alle in meinem Sicht-, Hör- und Riechfeld befindlichen Passagiere knapp drei Stunden lang ohne Unterlass vermeintliche Nahrungsmittel in sich hineinzustopfen. Um mich herum herrscht ein Gemampfe und Geschlürfe, unterschiedlichste Düfte verzichtenswürdigster Art steigen mir in die Nase, unentwegt knistern Plastikverpackungen und rascheln Papiertüten. Es ist kaum zum Aushalten.
Schräg gegenüber klemmt eine dreiköpfige Familie zwischen Vierertisch und den ächzenden Sitzen. Vater und Mutter mögen Anfang vierzig sein, der Sohn vielleicht dreizehn, Typ Handy-Nerd. Dem Nachwuchs sprießt ein unter normalen Umständen die Schönheit doch arg minderndes Bärtchen an der Oberlippe, das sich in unserem Fall jedoch beängstigend harmonisch in sein unvorteilhaftes Äußeres fügt. Ich schätze das Gesamtgewicht der Familie auf rund 300 Kilogramm, von denen gut die Hälfte auf das Familienoberhaupt entfallen dürfte. Mich beschleicht ein schrecklicher Verdacht: Wird die 1. Wagenklasse mittlerweile hauptsächlich von der rasant anwachsenden Gruppe derer gebucht, für die die Sitze in der 2. Klasse schlicht zu schmal sind? Als die Familie den Zug in Dresden-Neustadt mit erkennbarer Mühe erklimmt, gebietet sie neben einem gut sortierten Angebot an Softdrinkflaschen über sechs ansehnlich gefüllte Papiertüten der Firma Ditsch. Die Brezelmafia fühlt sich ja inzwischen deutschlandweit der Versorgung von Bahnreisenden mit minderwertigen Fertigbackwaren verpflichtet. Die Familie verkostet, nachdem sie sich auf Höhe Radebeul von den Einstiegsstrapazen erholt hat, diverse einschlägige Brezelvariationen, von denen die „kurz heißgemachte“ angebliche „Salamipizza“ mit Abstand die ekligste gewesen sein dürfte. Während des gemeinschaftlichen Mampfens sind Laute zu vernehmen, die, wenn man genau hinhört, als das übliche wohlfeile Geschimpfe über die „Scheiß-Bahn“ zu entschlüsseln sind. Nach anderthalb Stunden steigen sie in Bitterfeld aus, was mich komischerweise nicht überrascht. Ihr Anschlusszug möge eine Stunde Verspätung haben! Aber Moment, vielleicht steigen sie ja gar nicht um, sondern sind am Ziel. Aber nein, so viel Böses kann man einem Menschen nicht wünschen. Als der Mann seinen Koffer aus der Ablage hebt, schaut er sich noch einmal zufrieden gesättigt um und grüßt mit „Mahlzeit!“ in die Runde. Keine Pointe.
In Leipzig steigen zwei junge Männer mit schwarzen Kopfhörern zu, die jeweils in der linken Hand einen Halbliter-Starbucks-Kaffeebecher jonglieren, wobei der eine einen halb verzehrten Döner mit absturzbereiten Fleischflocken am Rand des Alukragens in der rechten Hand hält, der andere eine hutschachtelgroße geöffnete Asia-Nudelbox, aus der zwei Stäbchen wie ein Andreaskreuz herausragen. Die unheilige Allianz, die die Düfte dieser beiden Delikatessen binnen Kurzem eingehen, ist atemberaubend. Das Parfüm des Grauens begleitet mich bis Dessau.
Der Mann im Sitz vor mir isst gerade seine vierte Möhre. Er beißt jeden Bissen mit halb offenem Mund ab und kaut so laut, dass man meinen könnte, der Intercity habe einen Achsschaden. Anschließend lässt er ein kleines Intermezzo aus zwei von Paprikaspalten begleiteten Knackwürstchen folgen, wirklich eine anregende akustische Vielfalt, danke!
Die Dame hinter mir genießt derweil seit gut 20 Minuten – penetrant mit der Verpackung knisternd und mit offenem Mund kauend – eine 250-Gramm-Tüte Chio-Chips. Zeitweise überlappt sich der Kau-Rhythmus der Kartoffelfreundin mit dem meines möhrenvertilgenden Vordermannes – sie kaut allerdings Triolen, er eher Viertel. Ich ertappe mich bei Dirigierbewegungen. Kurz darauf wird das Chipsmenü mit einem ohrenbetäubenden Zusammenknüllen der Tüte beendet und von einem Dessert aus einzeln in Plastikfolie verpackten Mini-Schokomuffins gefolgt. Das sich darauf verbreitende Dr.-Oetker-Odeur konkurriert mit dem von vorne links herüberwallenden schwefligen Ausdünstungen vierer hartgekochter Eier, die genüsslich von einem Rentnerehepaar verschmaust werden, welches in Bitterfeld unseren Ditsch-Fanclub am Vierertisch abgelöst hat. Zwei Doppelscheiben Langweiler-Graubrot mit Einfachkäse finden ebenfalls den Weg ins Innere unserer beiden Senioren. Nachdem das Butterbrotspapier geknüllt und in einem knisternden Frischhaltebeutel endgelagert ist, kramen sie tatsächlich einen Knobelbecher aus dem Rucksack hervor und beginnen ein schwungvolles Würfelspiel, im Verlaufe dessen die Intercitytische den Beweis ihrer Unverwüstlichkeit antreten können.
Als wir in Magdeburg erneut den Elbstrom überqueren, drängt sich ein orangebehemdeter Servicemitarbeiter mit einem Bauchladen durch den Wagen und fragt jeden einzelnen Gast, ob er einen „kleinen Snack“ möchte – auch mich. Ich muss mich beherrschen, ihm nicht den Laden vom Bauch zu schlagen.
Der Möhren-Würstchen-Mann geht kurz vor Braunschweig kacken. Und ich darf endlich umsteigen. Der Anschlusszug soll voll sein, sagt meine DB-App. Macht nichts, ich habe einen reservierten Platz, natürlich in der Ruhezone, damit ich mir nicht das unentwegte Handy-Gesabbel all der geschäftigen Oberwichtigtuer anhören muss. Ich beginne eine Eingabe an die Deutsche Bahn AG zu formulieren, in der ich die Einrichtung von No-Mampfing-Zonen in Deutschen Fernzügen fordere. Als Symbol würde mir eine durchgestrichene Asia-Nudelbox gefallen.
Ich erreiche Hildesheim pünktlich um 13:42 Uhr. Die Liebste wartet am Bahnsteig. Mir ist nach einer gepflegten Mahlzeit. Bei unserem Lieblingsitaliener sitzen wir allein. Klar: Die anderen sind ja alle im Zug.