Eine Liebesgeschichte

Wir begegneten uns in diesem kleinen Kletterladen, irgendwo da draußen, ganz nahe bei den Felsen, in einer Gegend, in der man keine Geschäfte mehr vermutet, erst recht keinen Bergsporthandel. Wir passten wie angegossen zueinander, ja, ihr wart mit euren eleganten Formen wie geschaffen für meine schlanken Füße. Ihr kamt in einem geschmackvollen Waldgrün daher, ein robust wirkender schwarzer Gummirand bewehrte mein empfindliches Zehenwerk, und auf eurer Unterseite wartete eine Superhaftsohle aus einer Spezial-Gummilegierung, die jedem Highend-Kletterschuh zur Ehre gereicht hätte. Es war Liebe auf den ersten Blick, ich musste euch besitzen, soviel war klar. Ich erwarb euch an einem Samstag, ich weiß es wie heute. Eigentlich sollte längst Frühling sein, aber am Sonntag schneite es und auf der Rückfahrt gab es Schneeverwehungen auf der Autobahn.

Am Montag rutschte ich auf einer Eisplatte aus, kein Vorwurf an dich, rechter Schuh, das konntest du nicht wissen. Und du, linker Schuh, tatest, was man dir beigebracht hatte und haftetest auf einem kleinen Stück aperen Asphalts wie eine Eins, gewissenhaft erfülltest du deine Pflicht. Ich rotierte um den wie mit einer Schraubzwinge fixierten Fuß, eine Krafteinwirkung, für die mein linkes Wadenbein kein Verständnis aufzubringen in der Lage war und kurzerhand in zwei Stücke brach. Sechs Wochen Plastikstiefel. Aber ich konnte keinem von euch böse sein, nein, die Liebe nahm selbst durch Schmerz, Schwellungen und Blutergüsse keinen Schaden.

Kaum war ich genesen, folgten zwei wunderbare Jahre. Ich durchstreifte mit euch die endlosen Wälder, Heiden und Steppen meiner Heimat, ihr trugt mich verlässlich zu so manchem Felsenturm, wir waren in Treue verbunden, auf flachen wie auf steilen Wegen. Dabei habe ich euch, ich gestehe es, nie geschont. Die Wege, die ich euch zugemutet habe, waren oft schmutzig und steinig, nie habt ihr euch beklagt. Mehrmals musstet ihr euch sogar kletternd an steilem Fels bewähren, weil ich es in meinen zu engen Kletterschuhen nicht mehr aushalten mochte. Ihr trugt mich sicher durch steile Platten im sonnigen Sarcatal und murrtet auch nicht, als ich euch in der Trenker am Ersten Sellaturm über 100 Jahre alten Südtiroler Speck zugemutet habe. Ihr wart Helden, tapfer und genügsam. Wir waren Freunde, keine Frage.

Doch der Zahn der Zeit tat, was er gelernt hatte und nagte. An eurem Profil – es schwand mehr und mehr. An euren Nähten – sie platzten eine nach der anderen. An eurer Sohlenklebung – sie löste sich unaufhaltsam. Und gestern, ja gestern war‘s, fasste ich den Entschluss, mich von euch zu trennen. Glaubt mir, es fiel mir nicht leicht und ich hatte wahrlich ein schlechtes Gewissen. Doch es musste sein. Ich kaufte mir bei Christine in Hohnstein ein paar neue Schuhe, moderne Dinger, so welche mit etwas Gelb hier und da. Kein Vergleich mit euch, ich schwöre. Christine nahm euch gleich an sich, und weil sie wusste, dass ich es nicht übers Herz bringen würde, sagte sie leise: „Ich entsorge sie für dich.“ Ich wandte mich ab. In der Nacht plagten mich zwei, drei Träume der übleren Sorte.

Doch heute Morgen gab es auf der Treppe vor Christines Laden ein unverhofftes Wiedersehen. Ihr habt neue Aufgaben bekommen und seid über Nacht erblüht. Wie schön.

Und eine letzte Bitte an dich, der du diese Zeilen liest: Wann auch immer du dort vorbeikommst, mögest du sie ein wenig gießen. Auf dass sie noch lange leben.